Hochsicherheitstrakt oder S39

Vor ein paar Tagen war ich mal wieder zu Besuch bei meinen Eltern und habe in meinem „Jugendzimmer“ übernachtet. Im Herbst, wenn die Bäume vor dem Fenster ihre Blätter verlieren, entsteht freie Sicht auf das Gefängnis.

Gefängnis im Winter

Vor ein paar Tagen war ich abends dort mit einer Freundin spazieren und sie hat ein paar Fotos gemacht. Viele Lichter in der Nacht, daneben Stacheldraht und dicke Mauern, rundherum sind Äcker.
Diesmal haben sich die Gefangen nichts zugebrüllt. Es hat uns nur jemand hinterher gepfiffen.

Eigentlich, wenn man wirklich darüber nachdenkt, ist es ja schon komisch, in der Nähe von einem Gefängnis aufzuwachsen. Aber das war immer ganz normal, es war eben da.
Man hat sich eigentlich nicht wirklich damit befasst, was direkt vor den Augen darin geschah, dabei spiegeln die Prozesse, die dort geführt werden, ja auch irgendwie die Problematik unserer Zeit wieder.
Aber es passiert natürlich auch nicht jeden Tag etwas, was in die Geschichte eingeht, wie die „Todesnacht von Stammheim“.
Es gab aber auch später noch Selbstmorde mit politischem Hintergrund, und heute sitzen dort z.B. Al-Kaida-Anhänger

In der Grundschule haben wir einmal eine Luftaufnahme von Stammheim angesehen, da war das Gefängnis mit einem Klebestreifen verdeckt. Zensiert. Warum, wusste auch die Lehrerin nicht so recht. Vielleicht, damit man nicht in den Innenhof schauen kann, meinte sie. Damit man die Häftlinge nicht sieht, die dort ihre Runden drehen? (Drehen Häftlinge denn überhaupt noch Runden im Innenhof? Müssen die heutzutage nicht arbeiten?)
Oder gab es andere Gründe? Hatten die Lehrer Angst, dass wir Grundschüler anhand des Luftbildes geheime Informationen sammeln könnten und dann Ausbrüche mitorganisieren würden? Oder sollte mit dem Aufkleber die Existenz des Gefängnisses vertuscht werden, damit wir armen, kleinen Kinder, irgendwie damit nicht konfrontiert werden müssen?

Wie es ist, neben einem Gefängnis zu wohnen, oder warum man Gefängnisse braucht, oder was darin eigentlich passiert, darüber haben wir in der Grundschule nie geredet. Wir haben es auch nie bewusst von außen besichtigt. Man kam eher zufällig vorbei, z.B. einmal, als wir uns die Felder drumherum ansahen, und uns der Unterschied zwischen Weizen und Gerste erklärt wurde.

Heute ist das Geheimnis über die dunkle Stelle in der Karte gelüftet, dank google-Maps:

http://maps.google.de/maps?oe=utf-8&rls=org.mozilla:de:official&client=firefox-a&um=1&ie=UTF-8&q=stuttgart+stammheim+asperger+stra%C3%9Fe+60&fb=1&gl=de&hnear=Stuttgart&cid=0,0,11563969595520656325&ei=ZJriTM7PJcyRswbsq5mADA&sa=X&oi=local_result&ct=image&resnum=1&ved=0CBgQnwIwAA

Wenn Geschichte so direkt vor der Tür stattfindet, denkt man vielleicht, dass die Ansässigen neugierig sind und darum zum Beispiel mal zu einer Verhandlung gehen. Ich kenne aber keinen Stammheimer, der jemals da war.

Zur Zeit findet dort nach vielen Jahren wieder ein RAF-Prozess statt, wahrscheinlich der Letzte. Als ich noch zur Schule ging, wurden aber noch häufiger RAF-Prozesse dort geführt. Die konnte man auch besuchen, wenn man wollte, man musste dafür aber die Schule schwänzen. Es hieß, dass die bei den Sicherheitskontrollen aufgenommenen Daten gespeichert werden und man dann als latent verdächtig gilt, möglicherweise als RAF-Sympathisant.
Tatsächlich gab es damals ein paar Leute (alles keine Stammheimer), die einen RAF-Ausweis besaßen. Dieser sah ziemlich handgemacht aus, ein zusammengefaltetes weißes Kärtchen, so ähnlich wie Terminkärtchen vom Arzt, nur mit dem RAF-Zeichen vorne drauf. Die Besitzer wollten damit vielleicht zum Ausdruck bringen, dass sie ganz besonders entschlossen, rebellisch oder verwegen waren, Staatsfeinde erster Klasse sozusagen. Ich glaube aber nicht, dass einer von ihnen dann tatsächlich in den Untergrund gegangen ist… Die meisten werden den Besitz des Ausweis heute wohl als Jugendsünde abtun…

Als ich dann in Feuerbach ins Gymnasium ging, hörte ich oft den Spruch: „Ach, du kommst aus Stammheim, also aus dem Knast!“
Ich habe dann auch oft zum Witz gesagt: „Mein Vater war schon im Gefängnis!“ „Echt?“ „Ja, aber nur eine Stunde“. Er hatte das Gefängnis einmal mit dem Bezirksbeirat besichtigt. Das dachte ich jedenfalls damals, ich weiß  aber gar nicht, ob das wirklich stimmt.

Die Dorf-Kneipe nicht weit vom Knast hieß früher „Stammheimer Freiheit“.
Sie war trotzdem nicht besonders einladend.
Inzwischen heißt sie „Dialog“. Auch nicht schlecht…

Direkt neben das Gefängnis wurde irgendwann auch das Asylbewerberheim gebaut. Und ich glaube auch die Sozialsiedlung… Heute gibt es das Asylbewerberheim schon nicht mehr.

Zuletzt noch ein bisschen Musik von der Straße: Ein paar dort lebende jugendliche Hüfthüpfer singen über ihr „Stammheim 39“:
(Stammheim hat die Postleitzahl 70439…)

Das Video ist inzwischen leider nicht mehr online… Aber hier noch ein paar Textzeilen daraus.

„Wir sind jetzt dran
wir zeigen euch jetzt wo es langgeht
Das ist unsere Welt
die nächste Action tut anstehn
Fighten ist angesagt
18 Uhr Endhalte
Komm mit deinen Jungs
und bring deine Waffe
Es geht zur Sache Mann
50 Leute Popgun“

Leben ohne Garantien

Etwas scheine ich so langsam zu verstehen. Und zwar, dass ich mich damit abfinden muss, kein „normales“ Leben zu führen. Und zwar nicht nur jetzt sondern möglicherweise nie.

Wenn ich mich weiterhin dazu entschließen sollte, eigene Projekte machen zu wollen, werde ich nie dauerhaften Sicherheiten haben oder in festen Strukturen leben. Es wird nie „besser“ werden. Die Sorgen und die Ungewissheit werden bleiben. Ich werde nie fünf Tage in der Woche „beschäftigt“ sein und dabei ein von anderen bestimmtes Soll erfüllen. Ich werde weiterhin keine klaren, regelmäßigen Ergebnisse vorweisen können, die beweisen, dass ich etwas Sinnvolles oder zumindest Notwendiges getan habe. Auch auf ein regelmäßiges Gehalt, das existenzielle Sicherheit bringt, muss ich verzichten.

Was ich mache, ist selbst für mich schwer fassbar. Ein endloser Raum für Zweifel. Es gibt weder für die Quantität noch die Qualität meiner „Produkte“ Maßstäbe, die ich zu Rate ziehen kann. Dann ist ein Ergebnis kaum erkennbar und ich habe das Gefühl, ich tue zu wenig, oder ich frage mich, was ich nur die ganze Zeit gemacht habe.

Ich frage mich zum Beispiel, was ich das letzte halbe Jahr in Lauenburg gemacht habe, als ich Zeit hatte, mich mal nur meinen Projekten zu widmen. Was ist faktisch, „unter’m Strich“, dabei heraus gekommen? Solche Bewertungsmaßstäbe versagen, was ich getan habe, lässt sich kaum greifen, vor allem, weil meine Arbeit unmittelbar nichts an meinem Leben geändert hat. Ein Ordner voll Papier ist faktisch einfach nur ein Ordner voll Papier, mehr nicht. Vielleicht ist er auch etwas anderes, kann etwas anderes werden. Aber ob, wie oder wann? Nichts davon steht fest.

Erst jetzt, wo ich langsam begreife, dass ich auf unbestimmte Zeit oder sogar für immer in einer unklaren Situation verharren muss, merke ich, wie sehr mir das eigentlich widerstrebt und dass ich diese Art von Existenz eigentlich gern eines Tages überwinden würde und sie mir bisher auch immer nur als Übergangslösung vorgestellt habe. Als Phase, bis man irgendwie „Fuß gefasst“ hat. Aber was bedeutet Fuß fassen im klassischen Sinne, wenn man im kreativen Bereich an eigenen Projekten arbeitet? Dass man sich damit finanzieren kann? Oder dass man Anerkennung findet? Anerkennung von wem?

Wir Leben in einer Welt, in der man leicht den Eindruck vermittelt bekommt, dass man ohne Leistungsbereitschaft und ohne Erfolg untergeht.
Das habe auch ich verinnerlicht.
Aber diese Begriffe sind diffus. Leistung lässt sich bei Menschen nicht in Mhz oder RAM messen, man kann sich nicht „tunen“ lassen.
Das Ziel, auf das man hinarbeiten soll, hat keine klare Form. Man kann darum auf dem Weg zum Ziel eigentlich keine Sicherheit finden und das erzeugt Angst. Angst schafft Anpassungsbereitschaft. Und diese widerrum weniger Freiheit.

Die Freiheit wollte ich mir bewahren und habe mich aus Überzeugung für meine eigenen Projekte und gegen die Sicherheit, z.b. in Form einer Festanstellung entschieden. Ich dachte auch, ich wäre relativ immun gegen die „Angstmaschine“. Darum hat es mich überrascht, zu erkennen, dass ich doch mehr unter der Unsicherheit in meinem Alltag leide, als ich dachte, und dass ich meine Existenzängste indirekt ausagiere, indem ich mich unter Druck setze oder von einem seltsamen Ehrgeiz getrieben bin, der oft mehr blockiert als vorantreibt.

Wenn ich also denke, dass ich nicht genug tue und als Folge der Unzufriedenheit z.B. unkreativ werde oder in Alibiaktivitäten verfalle, liegt es wohl daran, dass ich dem Leistungsdenken nicht entkomme und mir unbewusst von Erfolg auch mehr Sicherheit und mehr Struktur erhoffe. Erfolg schafft aber nicht unbedingt Sicherheit, am ehesten vielleicht finanziell. Aber auch das nur als Etappe, ohne Garantien für die Zukunft…

Meine schlimmste Befürchtung ist also bereits eingetroffen.
Nichts wird sich ändern. Alles bleibt, wie es ist…

Aber gerade weil ich mich jetzt mit dieser Tatsache abfinden muss, kann ich seltsamerweise dem ewig unklaren Leben auf der Schwelle recht gelassen entgegen sehen. Ich muss nicht mehr permanent darauf hinarbeiten, dass etwas „besser“ wird. Ich liefere mich nicht mehr dem Stress aus, unbedingt vorankommen zu müssen, Ergebnisse zu produzieren oder „messbaren“ Erfolg zu haben. Persönlicher Erfolg ist wichtiger.

Passend dazu habe ich auch am Tag meines Rück-Umzugs nach Hamburg von einem Kluge-Sprüche-Verkäufer dieses Zitat gezogen:

„Wer ungetrübt und heiter sein will, der muss eines besitzen: die innere Freiheit“
(Meister Eckhart)